Kolonialismus: Multiperspektivität & Zugänge

Individuelle Perspektiven: Was hat das mit mir zu tun?

Erweitert die Erinnerungskultur – relativiert sie nicht

Die deutsche Erinnerungskultur ist geprägt vom Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Und das aus gutem Grund: das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte, der Holocaust, also die industrielle Vernichtung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden, von politisch Verfolgten, Sinti und Roma, sogenannten „Asozialen“, Menschen mit Behinderung und noch so vielen mehr wurde von Deutschen geplant, organisiert und durchgeführt. Es gibt kein vergleichbares Verbrechen. Gerade auch, weil erstmals ein Großteil einer bürgerlichen Gesellschaft arbeitsteilig und industriell an diesen Morden beteiligt war.

Der historische Nationalsozialismus ist damit die erste Säule deutscher Erinnerung. Denkt man das gedankliche Gebäude aber weiter, steht sie auf mehreren Säulen, die alle eine Berechtigung haben. Der Gedanke von gleichberechtigt tragenden Säulen würde in eine Konkurrenz führen, wie oben beschrieben. Weil eine Singularität immer zum Vergleich führen muss, nicht aber zur Gleichsetzung. Diese sogenannten Erinnerungskonkurrenzen, wie es aus der Völkermordforschung auch den Begriff der „Opferkonkurrenzen“ gibt, werfen Fragen auf wie „Wer darf sich zurecht als Opfer fühlen und wer nicht? Welchen Hinterbliebenen muss aufgrund der schieren Grausamkeit besonders viel Aufmerksamkeit gewidmet werden?“ Menschen, die ohnehin schon marginalisiert werden, weil sie betroffen sind von Rassismus oder Antisemitismus, auch noch gegeneinander auszuspielen, ist kein rein deutsches Phänomen. Es muss allem Unrecht gedacht werden und das Gebäude der Erinnerungskultur wird nur getragen, wenn eine Offenheit für die Geschichten aller verfolgten Gruppen da ist. Diese Ambivalenz muss eine demokratische Gesellschaft aushalten.

Und so ist die deutsche Geschichte mehr als zwölf Jahre nationalsozialistische Terrorherrschaft. Und so gab es auch mehr Zeit, Verbrechen zu begehen. Für viele war die DDR auch ein Unrechtsregime. Die zweite Säule. Eine Willkürherrschaft, die Andersdenkende bespitzelt, verfolgt, inhaftiert und auch ermordet hat. Auch ihrer Opfer muss ein modernes, vielfältiges und weltoffenes Deutschland gedenken. Das ist sicher unstrittig. Denn der persönliche Bezug der Menschen in Ostdeutschland ist qua Geburt gegeben. Doch eine dritte Säule der Erinnerung hat es deutlich schwerer: das Erinnern an den deutschen Kolonialismus. Oft wird so getan, als wäre das Deutsche Reich kein ernstzunehmender Akteur im Wettlauf der europäischen Großmächte um Kolonien gewesen. Doch es war nur später dran als die anderen. Um 1900 war es das drittgrößte Kolonialreich der Welt. Die Nationalsozialisten haben sich positiv auf die Kolonialisierung bezogen, wenn Hitler etwa davon sprach „Der Osten ist unser Indien“, was in der langen Tradition der innereuropäischen Kolonialisierung steht, die über Jahrhunderte beispielsweise einen polnischen Nationalstaat von der Karte tilgte.

Und der Kolonialismus war dabei wirkmächtiger als wir heute oft denken. Er hat der Welt seinen Stempel aufgedrückt, indem im Rahmen des transatlantischen Sklavenhandels zu seiner Legitimierung Rassismus als Konzept aufkam, ebenso wie der Kapitalismus und aus beiden folgend Klimakrise und weltweite Migrationsbewegungen. All dies können Absprungpunkte sein, um sich mit Kolonialismus im Unterricht zu beschäftigen. Außerdem hat er unsere Sprache geprägt, bestimmte Schimpfworte prägen unseren Alltag bis heute. Dabei lässt sich die Vielfalt in den Schulklassen als Ressource nutzen. Dabei betrifft vergangenes Unrecht alle Schüler:innen als Nachfahren von Täter:innen wie Opfern und daraus erwächst eine kollektive wie persönliche Verantwortung, sich damit auseinanderzusetzen.

Erinnerung stellt sich dabei laut Mark Terkessidis auf drei Ebenen als Konflikt dar:

Erstens als Pädagog:in. Der Konflikt kann als Angestellte:r des Staates, der als Rechtsnachfolger dieser Unrechtsstaaten gilt, nicht aufgelöst werden. Man ist sogar Partei im Konflikt. Aber man kann moderieren.

Zweitens gibt es in Deutschland zu wenig Wissen über den Kolonialismus. Erinnern braucht einen persönlichen Bezug. Dieser kann räumlich, zeitlich oder familiär sein. Erst bürgerliche Forschung (=“Citizen Science“) trägt die Verstrickungen vor Ort zutage. Die Geschehnisse sind zu lang her, als dass es noch Zeitzeugen gäbe, ein Problem, das langsam aber sicher auch das Erinnern an den Holocaust ereilt. Geschichtswerkstätten schreiben sich das Credo auf die Fahnen: „Grabe, wo du stehst“ und untersuchen ihre räumliche Umgebung nach Spuren. So lässt sich anschaulich erklären, warum Rassismus bis heute eine so große Wirkmacht hat.

Drittens fehlt den Menschen heute oft das, was man Verhandlungsfähigkeit nennt. Konflikte werden nicht mehr ausgehandelt, es wird auf dem eigenen Standpunkt beharrt und Habermas´ zwangloser Zwang des besseren Arguments scheint nicht mehr handlungsleitend zu sein. So ergeben sich immer weniger Möglichkeiten, Verhandlungen darüber zu führen, an was erinnert werden darf.

Die deutsche Geschichte ist vielfältig. Und so ist es auch das Grauen, das von Deutschen begangen wurde. All dieser Facetten zu gedenken ist eine große Aufgabe, aber sie muss angegangen werden, damit sich die Gesellschaft weiterentwickeln kann und offen und friedlich mit den Vielen, die sie ausmachen, leben kann.

Wie lässt sich Erinnerung als Konflikt vermitteln? Welche Fähigkeiten müssen vermittelt werden, um demokratische Werte wie Meinungspluralismus zu vermitteln? Konflikte können gewinnbringend sein und die Konkurrenzen müssen anecken. Es muss ausgehandelt werden. Erinnerung ist dabei die Aushandlung darüber: Wessen Erinnerung zählt? Erweitert die Erinnerung – relativiert sie nicht.

Beteiligung

Partizipation in Bildungsprozessen eröffnet vielfältige Chancen:  

Durch Beteiligung machen Jugendliche die Erfahrung, einer gestellten Arbeit oder Aufgabe den eigenen Stempel aufdrücken zu können. „Was hat das Thema mit mir zu tun?“ – heißt individuelle Zugänge zu finden und Bezüge zu ihrer eigenen Lebenswelt herzustellen.

Eine Öffnung von Bildungsprozessen bewirkt, dass Jugendliche mit ihren vielfältigen Herkünften und Zugehörigkeiten, ihren Kompetenzen, ihrer Expertise und Bedürfnissen wahrgenommen und anerkannt werden. Insbesondere unterschiedliche Sichtweisen und Erfahrungen bekommen dadurch Raum und Stimme.

So kann Multiperspektivität gelingen.

Ein wichtiger Aspekt der Demokratiebildung ist die Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen. Das Projekt bietet hier beispielsweise Planspiele, in denen über Straßenumbenennungen verhandelt werden kann. Anschließend können Schüler:innen lernen, wie der weitere Weg hin zur Umsetzung ihrer Eingaben aussehen kann. Weitere Methoden der Beteiligung finden sich im Abschnitt „Lernideen“.

Citizen Science Ansatz

Im Citizen Science Ansatz wird die Zivilgesellschaft in wissenschaftliche Forschung einbezogen.

Diese Beteiligung zielt auf:

  • neue Ideen, Fragestellungen, Methoden für Forschungsfragen
  • Übernahme von Verantwortung für die Mitwirkung in Forschung
  • Gestaltung eines Perspektivwechsels von allen Beteiligten
  • Öffnung der Deutungshoheit der Wissenschaft
  • Stärkung der Zivilgesellschaft
  • Mehr Akzeptanz und Verständnis für ein Problem
  • Kritische Hinterfragung der wissenschaftlichen Ergebnisse
  • Mitwirken an besserer Umwelt und besserer Gesellschaft


Weitere Informationen

  • Angelehnt an: Terkessidis, Mark: Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute, Hamburg 2019.