Psychische Beeinträchtigungen
FACHARTIKEL
Bindungsstörung
von Jan Wiedemann
In Gruppen und Schulklassen sehen sich pädagogische Fachkräfte nicht selten mit Kindern konfrontiert, die sich selbst nicht gut regulieren können und sich und andere damit einschränken. Hinter diesem Verhalten kann eine Bindungsstörung stehen. Zum einen ist es wichtig, dies abzuklären, um ggf. das Hilfesystem zu aktivieren. Zum anderen können diese Kinder auch von außerfamiliären Bezugspersonen hilfreiche Entwicklungsimpulse bekommen.
Einleitung
Aus der Arbeit als Psychotherapeut in eigener Praxis und in der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit ihren vielen verschiedenen Krankheitsbildern und Symptomen, erfahre ich, dass sich die Symptomatik der Bindungsstörung häufig mit Symptomen anderer Krankheitsbilder überlappt und nicht immer als Ursache für die bestehende Symptomatik erkannt wird.
Daher scheint mir eine Auseinandersetzung mit dieser Thematik für alle Berufsgruppen, die viel mit Kindern und Jugendlichen im Kontakt sind, wichtig und notwendig.
Bindung und Entstehung von Bindungsstörung
Bindung ist: „ein lang andauerndes affektives Band an nicht auswechselbare Bezugspersonen“ (Bowlby 1975). Anders ausgedrückt: Menschen gehen mit anderen Menschen emotionale Beziehungen ein und wichtig ist dabei, dass diese langfristig bestehen und die einzelnen Personen nicht beliebig austauschbar sind. Dabei geht es primär um Vertrauen und gegenseitige emotionale Unterstützung.
Bindungsverhalten ist als angeborenes Instinktmuster angelegt, das in Reaktionssystemen, wie Saugen, Weinen, Lächeln, Anklammern, Nachfolgen bzw. Suchen, biologisch fundiert und für Versorgung und Sicherheit überlebensnotwendig ist, „…es ist das Schützen und Beschützt werden vor Raubtieren“ (Bowlby 1975) –
Als Bindungsverhalten des Säuglings ist jede Art von Verhalten zu bezeichnen, welches die Nähe zu einem anderen Menschen (Versorger:in) herstellt oder aufrechterhält:
- Saugen: Prototyp der Interaktion, Mittel zur Nahrungs- und Kontaktaufnahme, biologische und kommunikative Funktion
- Anklammern: Greifreflex in den ersten zwei Monaten zum Festhalten an der Mutter, Körper‐ und Hautkontakt
- Schreien und Weinen: drückt das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Fürsorge, Beruhigung gegenüber der Bindungsperson aus
- Lächeln und Lachen bei Blickkontakt: ab 5. Woche, soziales Signal für gegenseitiges Interesse
- Nachfolgen (wenn sich die Motorik entwickelt): aktive Kontaktsuche
Die zeitliche Entwicklung von Bindung beim Säugling veranschaulicht folgendes Modell:
- Vorphase der Bindung (Geburt bis 6 Wochen): angeborene Signale, die das Kind sendet, Aufmerksamkeit des Kindes für Interaktion mit Bezugsperson, das Kind richtet seine Aufmerksamkeit dabei auf jede Person, die Kontakt mit ihm aufnimmt.
- Entstehende Bindung (6 Wochen bis 6‐8 Monate): Präferenz für vertraute Personen – Unterscheidung möglich, häufigeres Lächeln, Lachen, Plappern bei Anwesenheit von Bezugsperson, leichter durch diese zu beruhigen, Entwicklung von Erwartungen, wie Versorger:in reagiert, Entwicklung von Vertrauen
- Ausgeprägte Bindung (6‐8 Monate bis 1,5 –2 Jahre): aktive Kontaktaufnahme zur Bezugsperson, Unbehagen bei Entfernung (Fremdeln, Trennungsangst), Bezugsperson: sichere Basis, das erleichtert die Erkundung der Umwelt
- Reziproke (gegenseitige) Beziehungen (ab 1,5/2 Jahre): ansteigende sprachliche und kognitive Fähigkeiten, Fähigkeiten, einfache Gefühle, Ziele und Motive der Eltern zu verstehen, weniger Trennungsstress, Kind wird zunehmend aktiver, Aufbau einer funktionierenden wechselseitig geregelten Beziehung
Je nachdem, wie die Bezugsperson auf die Signale des Säuglings reagiert, führt das zu bestimmten Bindungsstilen, die das Bindungsverhalten des Kindes prägen.
Für die Entwicklung einer sicheren Bindung kommt es darauf an, dass die Bezugsperson die Bedürfnisse des Säuglings befriedigen und eine sichere und fürsorgliche Beziehungsbasis bieten kann. In dieser zuverlässigen Beziehung lernt das Kind, Gefühle zu erkennen und Erregungszustände zu regulieren.
Wenn Bezugspersonen diese Voraussetzung aufgrund von psychischen Erkrankungen, Suchtverhalten oder eigenen Bindungsdefiziten – ggf. eigenen Vernachlässigungs- und Gewalterfahrungen – zu wenig erfüllen können, kann das zu nicht sicheren bzw. desorganisierten-desorientierten Bindungsstilen bei den Kindern führen – insbesondere wenn keine anderen Bindungspersonen zur Verfügung stehen.
Bindungsstile (nach Ainsworth et al 1969)
Sichere Bindung:
- Positives Verhalten gegenüber der Bezugsperson
- Unbehagen bei Abwesenheit der Bezugsperson
- Begrüßung bei Wiederbegegnung
- Lässt sich leicht beruhigen
- Sicherheitsgefühl bei Anwesenheit Exploration der Umwelt mit der Bezugsperson als sichere Basis
Unsicher‐vermeidende Bindung:
- Gleichgültigkeit bis Vermeidung gegenüber den Eltern
- Keine Begrüßung bei Wiederbegegnung
- Bei Unbehagen von fremden Personen ebenso leicht zu beruhigen
Unsicher‐ambivalente Bindung:
- Klammern an Bezugsperson
- Keine Erkundung der Umwelt
- Angst bei Trennungssituation
- Schwere Beruhigung bei Wiederbegegnung –Trost suchend bis widersetzend
Desorientierte Bindung:
- Keine konsistente Stressbewältigungsstrategie
- Konfuses und widersprüchliches Verhalten
- Wut, Schreien, Schlagen, ängstliches Lächeln und Wegschauen bei Annäherung der Bezugsperson
- Benommenheit, Desorientiertheit, Erstarren, unvollständige Bewegungen
- Kinder mit unlösbarem Problem –wollen sich den Eltern nähern, diese scheinen aber auch Quelle der Angst zu sein
Symptomatik
Um eine Bindungsstörung feststellen zu können, müssen typische Verhaltensweisen über mehrere Monate bestehen bleiben und eine Begutachtung über mindestens sechs Monate erfolgen (Brisch, 2011).
Es handelt sich um eine psychische Störung, die aus inkonsistenten, widersprüchlichen Beziehungsangeboten im engen Bezugsrahmen entsteht. Dadurch ist die psychovegetative Regulation erheblich eingeschränkt. Das bedeutet, dass emotionale Situationen nicht gut erkannt werden und daher mit sehr starkem emotionalem Stress reagiert wird. Entweder mit Wut und Aggression oder mit Rückzug, Vermeidung und Verweigerung. Diese Reaktionen sind natürlich, aber die betroffenen Kinder haben noch nicht gelernt sich selber zu beruhigen, zu orientierten und weiter zu machen. Dafür benötigen sie Unterstützung. Wenn diese Unterstützung ausbleibt, werden die „unreifen Bewältigungsmechanismen“ reaktiviert und verstärkt, zum Beispiel „Schreien bis Unterstützung kommt“.
Eine „Bindungsstörung“ entsteht aus dem desorganisierten-desorientierten Bindungsstil.
Der desorganisierte-desorientierte Bindungsstil entsteht dadurch, dass die Bindungsperson, die das Kind benötigt, sowohl unterstützend als auch destruktiv mit dem Kind interagiert. Zum Beispiel gibt sie phasenweise Versorgung, Zuwendung, Unterstützung und wechselt dann in aggressive und feindselige Handlungen gegen das Kind, die Angst und Schmerz auslösen. Das können Gewalt (Anschreien, Schütteln, Misshandlungen), aber auch Vernachlässigungen, zum Beispiel Alleinlassen, keine Animation zum Spielen, Lernen, Bewegung, Sprechen, gehören dazu. Es handelt sich nicht um einmalige oder seltene Vorfälle, sondern um ein kontinuierliches Muster im Umgang mit dem Kind. Das Kind muss sich immer wieder in dieser Unberechenbarkeit (des-)orientieren.
Interventionsmöglichkeiten
„Ein Kind sollte nicht länger als 5 Minuten am Stück schreien. (…) Wenn ein Kind in seiner Not wiederholt alleingelassen wird, zieht es sich zurück, vermeidet Kontakte und versucht den Stress selbst zu regulieren. Weil dies jedoch altersbedingt nur unvollständig gelingen kann führt das zu einem Selbstbild der Unvollkommenheit.“ (Liselotte Ahnert)
Bindungsgestörte Kinder haben in einem bestimmten Entwicklungsschritt nicht ausreichend Unterstützung bekommen, um sich regulieren zu können. Sie fühlen sich nicht sicher.
Bei hilfreichen Interventionen – zum Beispiel von pädagogischen Fachkräften in KiTa oder Schule – geht es darum, bei dem Kind Sicherheit für seine Emotionen und seine körperliche Gesundheit herzustellen und aufrecht zu erhalten. Dies sind normalerweise die Funktionen von Bindungspersonen bei Kindern im Alter zwischen 0 und 6 Jahren. Sie müssen angepasst werden an das jeweilige Entwicklungsalter, das heißt:
- basale Unterstützung bei den körperlichen Bedürfnissen geben (Ruhe, Einschlafen; wach und aktiv werden, um etwas zu schaffen; Nahrung bei Hunger/Durst),
- Neugier unterstützen, um neue Erfahrung sammeln zu können,
- vor Gefahren schützen, um zu großen vegetativen Stress zu vermeiden,
- Trost geben,
- Ängste regulieren,
- Bewältigungsstrategien vermitteln.
Diese Kinder profitieren von klaren Strukturen, die kindliche Bedürfnisse im Blick haben, aber auch die Entwicklungsfortschritte und eigenen Kompetenzen der Kinder berücksichtigen.
Die unten angeführte Grafik verdeutlicht, je früher Kinder gut durch Bindungspersonen unterstützt werden, desto besser. Spätere Interventionen benötigen mehr Energie und haben weniger Wirkung.
Sollte in Kinderkrippe, Kindergarten, Schule, Jugendarbeit und anderen Einrichtungen der Verdacht auf Bindungsstörung bei einem Kind entstehen, ist eine weitere Klärung über Fachkräfte der Jugendhilfe dringend erforderlich. Wenden Sie sich bitte an das zuständige Jugendamt, dieses beurteilt dann weitere notwendige Interventionen. Dieses Verfahren ist nach § 8a SGB VIII, Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung, geregelt.
Literaturhinweise
Liselotte Ahnert: “Bindungen muss sich jeder selbst erarbeiten. In: DIE ZEIT Nr. 35/ August 2020
Ainsworth, M. D., & Wittig, B. A. (1969): Attachment and exploratory behavior of one-year-olds in a strange situation. In B. M. Foss (Ed.), Determinants of infant behavior (Vol. 4, pp. 113-136). London: Methuen.
Brisch, K. H. (2013): Bindungsstörungen – Von der Bindungstheorie zur Therapie.
12., Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta
Bowlby, J. (1976): Psychische Schäden als Folge der Trennung von Mutter und Kind. München: Kindler.
Spangler, G. & Zimmermann, P. (2019; 8.Auflage): Die Bindungstheorie: Grundlagen, Forschung und Anwendung. Stuttgart: Klett-Cotta.
Interview zum Beitrag mit dem Autoren Jan Wiedemann
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Aktion Kinder- und Jugendschutz S-H e. V. in Kooperation mit der Koordinierungsstelle gesundheitliche Chancengleichheit bei der Landesvereinigung für Gesundheitsförderung in S-H e. V.